Den Menschen simulieren

SuperMUC-NG kämpft mit seinen Mitteln gegen Corona: Der Supercomputer des Leibniz-Rechenzentrums in Garching ist zurzeit damit beschäftigt, aus Arzneimittel-Bibliotheken und Millionen von chemischen Substanzen, natürlichen Heilmitteln oder zugelassenen Medikamenten jene Wirkstoffe herauszufiltern, mit denen das Corona-Virus oder SARS-CoV-2 besiegt werden kann. "Supercomputer sind eine bemerkenswerte Ressource für die Entwicklung von COVID-19-Behandlungen“, sagt Peter Coveney, Mehrfach-Professor, Direktor des Zentrums für Computional Science (CCS) an der University College London (UCL) und Initiator von CompBioMed. „Sie können durch eine Vielzahl von Methoden wie maschinelles Lernen und künstlicher Intelligenz komplexe molekulare Dynamik sowie mögliche Wirkstoffe identifizieren. Wir müssen nicht nur Moleküle finden, die sich an die Stacheln auf dem Coronavirus binden, sondern auch modellieren, wie gut sich diese binden, wenn die Stacheln sich bewegen.“


Digitale Zwillinge für personalisierte Medizin


CBM-Mensch_sDie Corona-Krise bestätigt den gesellschaftlichen Nutzen von CompBioMed, einem von der EU geförderten Projekt zur Grundlagenforschung rund um die Medizin. In den letzten fünf Jahren entwickelten Wissenschaftler und Universitäten aus Europa und den USA unter Coveneys Leitung rund 20 Programme, Algorithmen und Anwendungen für High Performance Computer (HPC), mit denen ein virtuelles Modell des Menschen geschaffen werden kann. Damit lassen sich die Bewegungsabläufe von Muskeln und Knochen, biochemische und molekulare Prozesse sowie das Geschehen in Gefäßen, Adern, im Herzen oder beim Blutfluss berechnen und simulieren. Die Codes und Programme verarbeiten Massendaten zu einem virtuellen Menschen oder aber die Lebensdaten eines einzelnen Menschen zu seinem digitalen Zwilling – ein Ausgangspunkt für die personalisierte Medizin.

Im Kampf gegen COVID-19 machen sich die Werkzeuge von CompBioMed jetzt bezahlt: Die Simulationsprogramme helfen dabei, das Corona-Virus und sein Vermehrungsverhalten zu modellieren, Moleküle auf ihre Wirkungsweisen hin zu prüfen und möglichst schnell Gegenmittel zu entdecken. Dank HPC lagen bereits Wochen nach dem Ausbruch von COVID-19 detaillierte Modelle des Coronavirus vor, aber auch die ersten 40 Wirkstoffe, mit denen der Virus bekämpft werden könnte.


Modell Mensch in HD-Auflösung


Vier Jahre nach dem Start von CompBioMed startete 2019 die zweite Phase des ehrgeizigen Forschungsprojektes: Das virtuelle Menschen-Modell soll durch die gewachsene Kraft von Hochleistungsrechnern und mit Unterstützung von Big Data, künstlicher Intelligenz und Maschinenlernen ergänzt und noch genauer werden. Das LRZ begleitet CompBioMed seit 2016, seit 2019 ist es Kernpartner im Projekt und verantwortlich für die Analyse und das Management großer Datenmengen. Mitte März war ein dreitägiges virtuelles Arbeitstreffen zum Thema Maschinenlernen und Modellieren anberaumt. „Während der Konferenz wurde diskutiert, wie die Computerwissenschaften und die Informatik zur Lösung von konkreten Problemen in der biomedizinischen Forschung beitragen können“, berichtet David Wilfing, promovierter Medizinalchemiker und neuer LRZ-Koordinator für CompBioMed. „Außer HPC und Simulationen spielen bei diesem Projekt Big Data, maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz eine große Rolle, etwa wenn es darum geht, Medikamente und Wirkstoffe zu erforschen.“

Mit Daten und künstlicher Intelligenz sollen Supercomputer in der zweiten Projektphase nun dreidimensionale, maßstabsgerechte Modelle in voller HD-Auflösung visualisieren. Erste Meilensteine dabei sind bereits erreicht: Mit Daten der Schweizer IT’IS-Foundation sowie dem CompBioMed-Programm HemeLB simulierte und visualisierte der Supercomputer des LRZ den Fluss roter Blutkörperchen in den Adern. „Verglichen mit einer Expedition auf den Mount Everest, bewegen wir uns jetzt auf Camp 2 zu“, beschreibt Coveney den Stand von CompBioMed.


Unterstützung beim Management von Daten

Neben der Beratung, Ausbildung und Unterstützung beim Supercomputing – Coveneys Code zur Erforschung von Wirkstoffen forderte erstmals alle 311 040 Rechnerknoten des noch neuen SuperMUC-NG – wird das LRZ helfen, die Daten von CompBioMed aufzuarbeiten und mit Metadaten zu katalogisieren. So werden sie online leichter gefunden und nutzbar für Wissenschaft, Medizin und Wirtschaft. Das LRZ hat für vergleichbare Aufgaben bereits das Speichersystem LRZ Data Science Storage aufgebaut, bietet Tools zur automatisierten Hochdurchsatz-Analytik von riesigen Datenmengen und für die Datensicherheit. Bei CompBioMed wird das LRZ außerdem mit EUDAT, der Open European Science Cloud, zusammenarbeiten: „Das ist interessant, weil EUDAT für das Datenmanagement eine reichhaltige Toolbox anbietet, die wir vielleicht mit unseren Services verbinden können“, sagt Stephan Hachinger, Leiter des Research Data Management-Teams. CompBioMed kann von den Erfahrungen, die das LRZ-Team in Datenmanagement-Projekten wie LEXIS oder Generic Research Data Infrastructure (GerDI) bereits sammelt, profitieren und umgekehrt.


Klüger durch künstliche Intelligenz

CompBioMed fordert auch die Spezialisten für Big Data und künstliche Intelligenz am LRZ: „Machine Learning ist in der Forschung und Medizin angekommen, es wird überall eingesetzt und ergänzt die klassische Computersimulation“, hat Peter Zinterhof, Mitarbeiter im Team Big Data und Künstliche Intelligenz des LRZ, während des CompBioMed-Treffens festgestellt. „Durch die Überprüfung der Arbeitsweise von austrainierten Netzen können wir mehr über die inneren Zusammenhänge der Fragestellung lernen.“ In riesigen Datenmengen, etwa aus medizinischen Screenings oder Massentests, finden Algorithmen oft mehr Muster und Regelmäßigkeiten als Menschen. Das bringt die Forschung auf neue Fragen und zu mehr Wissen. Zinterhof, der am LRZ auch das Projekt DigiMed zur Digitalisierung in der bayerischen Medizin betreut, rechnet damit, dass sich künstliche Intelligenz und Machine Learning, Bilderkennung und andere smarte System daher jetzt stärker in der Medizin ausbreiten. Supercomputing etabliert sich gerade in den Lebenswissenschaften.

Auch bei der Erforschung von SARS-CoV-2 und Corona arbeiten Supercomputer Hand in Hand mit künstlicher Intelligenz oder Algorithmen: "Wir nutzen die immense Leistung von Supercomputern, um schnell eine riesige Anzahl potenzieller Verbindungen zu suchen, die das neuartige Coronavirus hemmen könnten“, erklärt Coveney, „und verwenden die gleichen Computer erneut, aber mit unterschiedlichen Algorithmen, um diese Liste auf die Verbindungen mit der besten Bindungsaffinität zu verfeinern. So identifizieren wir die vielversprechendsten Verbindungen, um danach in herkömmlichen Laboren die wirkungsvollste Behandlung oder Impfung gegen COVID-19 zu finden.“


HPC beschleunigt Medikamenten-Entwicklung

Mit gewohnter Laborarbeit und Analysen kann die Entwicklung eines marktreifen Medikaments bis zu 12 Jahre dauern und bis zu zwei Milliarden US-Dollar kosten. HPC, auch das eine grundsätzliche Erfahrung von ComBioMed, minimiert den Aufwand beträchtlich. Die Hoffnung besteht, dass ein Impfstoff gegen die aktuelle Pandemie mit Hilfe von HPC in den nächsten Jahren vorliegen könnte. Doch CompBioMed ermöglicht noch mehr: Anhand eines digitalen Zwillings könnten zum Beispiel Stents und andere invasive Eingriffe präziser platziert und Medikamente oder prothetische Geräte personalisiert werden. Der individuelle Cocktail aus Wirkstoffen zur Linderung von Symptomen wird damit ebenso realisierbar wie passgenaue Gelenke.

Weiterführende Links

https://www.compbiomed.eu
https://www.youtube.com/watch?v=1FvRSJ9W734&feature=youtu.be
https://itis.swiss/news-events/news/latest-news/
https://www.gerdi-project.eu/
https://eudat.eu/