

Seit den 1990er Jahren wurden Therapien und Medikamente auf Basis der Ribonukleinsäure (RNA) stark weiterentwickelt, gerade im Kampf gegen Krebs. RNA ist eine Nukleinsäure in der Zelle, die genetische Informationen in Proteine umwandelt. Aufmerksamkeit bekamen RNA-basierten Medikamente während der COVID-19-Pandemie, weil die ersten Impfstoffe Boren- oder Messenger-RNA (mRNA) nutzten, um einen Infektionsschutz gegen das Virus aufzubauen. Das Verständnis, wie RNA heilen und Krankheiten vorbeugen hilft, wächst stetig, inzwischen untersuchen Forschende immer neue Krankheiten, die durch die Umwandlung oder Korrektur genetischer Informationen beeinflusst werden können. „Man kann RNA nicht einfach in einer Kapsel oder als Impfstoff in den Körper geben, da sie nicht automatisch von den Zellen aufgenommen werden – man muss Wege finden, sie dorthin zu bringen“, gibt Dr. Benjamin Winkeljann vom Lehrstuhl für Drug Delivery an der LMU zu bedenken. „Wir verwenden deshalb sogenannte Nanocarrier, um RNA in die Zelle zu bringen, denn je mehr therapeutische RNA in die Zelle gelangt, desto wirksamer ist ein Medikament. Erreicht sie dazu gezielt die erkrankten Zellen, sinkt außerdem das Risiko oder die Schwere von Nebenwirkungen für die Patienten.“ Wie lässt sich RNA aber gezielt steuern? Um diese Frage zu beantworten, setzen Winkeljann und sein Team auf High-Performance Computing (HPC): Am SuperMUC-NG des Leibniz-Rechenzentrums (LRZ) simulierten sie die Bewegungen, Verhalten und die Wechselwirkungen von Molekülen, um zu erkennen, welche Nanopartikel die RNA wie an ihr Ziel bringen.
Simulationen zeigen die Wege von Wirkstoffen im Körper
Im Gegensatz zur Desoxyribonukleinsäure (DNA), dem doppelsträngigen Molekül, das den Zellen genetische Informationen über ihre Rolle und Funktion vermittelt, führt RNA entweder Zellfunktionen aus oder stellt Proteine her, die dies für sie tun. Seit den späten 1990er Jahren sind die so genannten Small Interfering RNA (siRNAs) bekannt, die die Genexpression hemmen oder blockieren, also jenen Prozess, bei dem Nukleotide, DNA- oder RNA-Bausteine, Proteine produzieren, die Anweisungen an bestimmte Zellen weitergeben. Auf diesem Prinzip basiert das Wirken unserer Gene: Zwar enthält jede Zelle die vollständige Erbinformation der DNA, aber in den meisten Zellen werden über Proteine nur diejenigen Gene aktiviert, die sie für ihre eigentliche Aufgabe brauchen. „Exprimieren“, nennen Biologinnen diesen Auswahlprozess: „In einigen Fällen werden Gene übermäßig exprimiert, was zu den Symptomen führt, die wir mit einer Krankheit verbinden“, erklärt Winkeljann. „Das ist der Fall bei schwerem Asthma, Lungenkrankheiten mit Atemnot und schwerem Husten sowie bestimmten Krebsarten.“ Hier können Therapien mit siRNA helfen. Sie packen laut Winkeljann das Leiden an der Wurzel: „Bei vielen Krankheiten laufen komplizierte, biologische Prozesse ab, an deren Ende dann ein Krankheitssymptom steht“, so der Forscher. „Mit siRNA greifen wir sehr weit oben in dieser Kaskade ein, anstatt nur Symptome zu behandeln.“ Das ist die gute Nachricht.
Doch siRNA gelangt nicht von allein an den richtigen Ort im Organismus. Ribonukleinsäure in Medikamenten kann sich zersetzen, bevor sie ihr Ziel erreicht. Deshalb wird die Substanz mit geeigneten Trägerstoffen kombiniert. Pharmakologinnen und Biologen setzen für den RNA-Transport beispielsweise auf Fettmoleküle (Lipide). Die Arbeitsgruppe um Winkeljann testet dazu kationische Polymere. Das sind große Moleküle mit sich wiederholenden Strukturen. Positiv geladene kationische Polymere ziehen negativ geladene RNA-Moleküle an und bilden sogenannte Polyplexe, die die Ribonukleinsäure sicher ans anvisierte Ziel bringen. Ob Polyplexe besser als Lipide funktionieren, das lässt sich am besten per rechnergestützter Simulation klären – ein Grund, warum Winkeljann als Ingenieur 2021 zum LMU-Lehrstuhl für Drug Delivery und zum Team von Prof. Olivia Merkel stieß. Die Arbeitsgruppe dort hatte zwar bereits umfassende Erfahrung mit RNA-Therapien gesammelt, doch Winkeljanns Part war nun, Experimente durch Simulation zu ergänzen: „Ich fand es spannend, rechnergestützte Methoden in unsere Forschung einzubringen, und gleichzeitig war es eine persönliche Herausforderung, weil ich vorher noch nie mit Molekulardynamik-Simulationen gearbeitet hatte.“
An dieser Stelle kamen die Spezialistinnen vom Anwendungssupport des LRZ ins Team: Mit Molekulardynamik-Simulationen lassen sich die Wechselwirkungen von Molekülen oder nachvollziehen, und zwar im Zeitverlauf. Diese Simulationen sind zwar präzise, aber auch sehr rechenintensiv, insbesondere, wenn größere Systeme oder längere Zeitspannen berechnet werden müssen, um etwa die Polyplex-Bildung und ihre Wechselwirkung aufzuzeigen. Mit den HPC-Expert:innen entwickelte die Arbeitsgruppe von Winkeljann eine Rechenstrategie, die auf der „Coarse-Grained“-Molekulardynamik (CGMD) basiert. Dabei werden nicht alle Atome einzeln simuliert, sondern zu Gruppen zusammengefasst und als ein Interaktionspunkt dargestellt. Das vereinfacht das Modell, erlaubt aber deutlich effizientere Simulationen bei weiterhin hoher Genauigkeit: „Um Muster und Konzepte in diesen komplexen Systemen zu verstehen, müssen wir Parameter variieren und viele Simulationen durchführen – nicht nur eine einzige, riesige“, erläutert Winkeljann. Mit Hilfe von SuperMUC-NG simulierten die Forschenden die molekulare Organisation und Dynamik von siRNA-Polyplexen und verglichen die Ergebnisse mit bestehenden Experimenten. Die Simulationsdaten stimmten mit denen aus Versuchen gut überein – ein wichtiger Validierungs- und Forschungsbaustein für die Entwicklung künftiger siRNA-Therapien. Die Ergebnisse des Teams wurden daher auch von den Nano Letters veröffentlicht.
Unterstützung für die Arzneimittelforschung
Mit CGMD als erprobtem Werkzeug kann das Team seine experimentelle Arbeit nun durch Simulationsrechnungen ergänzen. „Ich hatte vorher kaum Erfahrung im Rechnen auf großen Systemen“, erzählt Winkeljann. „Der Schritt vom Lehrstuhl-Cluster auf ein System wie SuperMUC-NG war enorm.“ Aber mit Unterstützung der Expertinnen, insbesondere dem Experten für Molekulardynamik, Dr. Helmut Brüchle, konnte das Forscherteam diesen leichter bewältigen. Das LRZ begleitete sein Team durch den Skalierungsprozess – von ersten Tests über kleinere Rechenprojekte bis hin zur Großrechenzeit-Zuteilung – und bei der Weiterentwicklung der Rechenanwendung. „Öffentliche Förderung statt kommerzieller Interessen erlaubt es uns, unabhängig zu forschen“, ergänzt Winkeljann sein Lob. „Wir betreiben Grundlagenforschung zu Mechanismen, die der Arzneimittelverabreichung zugrunde liegen – das deutlich fundamentaler als pharmazeutische Entwicklungsabteilungen es oft tun. In einem privatwirtschaftlich geförderten Umfeld wäre diese Art von Forschung aufgrund anderer Zielsetzungen kaum möglich.“ (Eric Gedenk | GCS)