Magische Momente für den Unterricht

Der alte Mann sitzt im roten Ohrensessel und erzählt: von Flucht, Lager, Grausamkeit. Von Familie, Überleben, Zukunft. „Wir sind alle nur kleine Teile in der Geschichte, aber unser Wissen dürfen wir nicht ins Grab mitnehmen, sondern müssen es weitergeben“, sagt Abba Naor, Überlebender des Holocaust. „Was einmal geschah, kann wieder geschehen. Um das zu vermeiden, müssen wir darüber reden.“

Teamwork für virtuelle Zeugnisse

Deshalb gibt es Abba Naor inzwischen noch virtuell: Für das Projekt Lernen mit digitalen Zeugnissen (LediZ) wurde der gebürtige Litauer als Zeitzeuge virtualisiert. Dank Spracherkennung kann sein Alter Ego nun in Zukunft Fragen zu seinem Überleben in den Konzentrationslagern Stutthof und Dachau beantworten – so als würde man ihn heute, zu seinen Lebzeiten fragen. „Zielgruppe von LediZ sind Jugendliche ab 16 Jahren und Studierende, sie sollen mit dieser Form von mixed reality ausgebildet werden“, berichtet Anja Ballis, Professorin der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) München, Didaktikerin und Projektleiterin LediZ. „Das Projekt ist interdisziplinär und lebt von der Synergie unterschiedlicher Fach- und Wissensbereiche.“

Bei LediZ arbeiten Didaktker*innen), Pädagog*innen, Historiker*innen, Sprach- und Sozialwissenschaftler*innen und Informatiker*innen zusammen. Das Leibniz-Rechenzentrum (LRZ) und Dienstleister wie die Designagentur Bright White unterstützen mit Technik und Erfahrungen, um Berichte von Zeitzeugen, wie Abba Naor oder Eva Umlauf, die ihre ersten Lebensjahre in Arbeits- und Konzentrationslagern verbrachte, für die Nachwelt zu erhalten und für den Unterricht aufzubereiten. „Wir sehen in der Virtualisierung von Zeitzeugenberichten eine große Chance für die didaktische Vermittlung von Stoffen, weil Lehrende und Lernende sich dabei mit der Kunst des Fragens beschäftigen, die viel zu oft beim Lernen vernachlässigt wird“, sagt Ballis. „Bisher gab es in jeder Interview-Sitzung mit den virtuellen Zeitzeug*innen einen magischen Moment – wenn Zuhöre*innen spürbar in den Bann der Antworten gezogen werden.“

Kinotechnik + Spracherkennung = Dialogfähigkeit

Noch sind magische Momente für den Unterricht aufwändig – und anstrengend. Vor allem den Zeitzeug(inn)en wird dafür viel abverlangt: Fünf Tage lang setzten sich Abba Naor und Eva Umlauf jeweils für drei bis vier 45 Minuten dauernde Interview-Runden in den roten Ledersessel und beantworteten mehr als 1000 Fragen zu ihrem Leben. Sie wurden dabei im Studio der britischen Designagentur und Filmproduktion Bright White aus York von zwei RED-Epic-Kameras stereoskopisch gefilmt: „Im Augenabstand aufgestellt, entsteht beim Anschauen der Filme mit speziellen Brillen später ein dreidimensionaler Eindruck, man glaubt, die sprechende Figur sei echt“, erklärt Daniel Kolb, Spezialist am LRZ für Virtual Reality und Visualisierung, die Wirkung der Technik, die sonst in Kinofilmen eingesetzt wird. „Für LediZ war Kontinuität wichtig, jede Frage sollte in der gleichen Einstellung aufgenommen werden können.“

Denn im Gegensatz zum Film sollen die Zeitzeugenberichte von LediZ im Dialog oder durch Fragen von Zuschauern abgespult werden. Das wiederum steuert die Spracherkennung Google Dialogflow, die die Audiospuren der Interviews verarbeitet. Für sie wurden die real gestellten Fragen zusätzlich noch semantisch und linguistisch modifiziert. „Zu den 1.000 Fragen kommen noch 40.000 Variationen, die wir nach einem eigens entwickelten, linguistischem System erstellt haben“, erläutert Ballis. „So erhöhen wir die Passung von Fragen und Antworten.“ Die Spracherkennung sucht und liefert nun zu jeder Frage, die Zuschauer stellen, eine inhaltlich passende Antwort der Zeitzeugen. „Wir erreichen bereits 80 Prozent Treffsicherheit damit, wollen das aber noch auf über 90 Prozent steigern“, berichtet Kolb. „Es kommt auf die Fragen an, verschachtelte, lange werden nicht gut verstanden.“

Zeitzeugen im Dialog

Die Filme von den Interviews mit Eva Umlauf und Abba Naor können zwei- und dreidimensional abgespielt werden: 3D-Brillen lassen zwar die Zuschauer*innen in die Gesprächssituation abtauchen, aus den Daten, die das LRZ archiviert und zur Verfügung stellt, ließen sich auch Apps für Chats oder Interaktion mit Zeitzeugen entwickeln. Damit die persönlichen Berichte möglichst vielseitig und noch lange von neuester Technik ausgewertet und verarbeitet werden können, wurden sie in höchster Auflösung produziert.

„Ich habe noch meine Bedenken, wie das wirkt auf Kinder – ist das nicht doch etwas Anderes als wenn der Mensch lebendig Fragen beantwortet“, fragt Eva Umlauf nachdenklich und gibt selbst die Antwort. „Wenn wir einen alten Film sehen, der nicht in Farbe oder 3D gemacht wurde, beeindruckt uns das ja auch.“ Noch sind die interaktiven Interviews Prototypen. Ihre Wirkung wird gerade vom LediZ-Team erforscht. Wenn Lernende und Studierende die virtuellen Zeitzeugen befragen, wird Wissenschaftlerin Ballis oft berührt: „Zum Teil sind Studierende sehr nervös, wenn sie Fragen stellen. Sie wollen nichts Falsches fragen“, beobachtet die Didakterin beim Einsatz. „Und oft entsteht eine beglückende Stimmung, wenn die Zeitzeugen eine sinnhafte Antwort zur eigenen Frage geben.“

Noch mehr Zeug*innen, noch mehr Wissen

Zwar muss der Einsatz der interaktiven, virtuellen Erlebnisberichte noch erforscht werden, doch Anja Ballis und ihre Kollegen von LediZ, der Politik-Wissenschaftler Professor Markus Gloe und der Historiker Professor Michele Barricelli, wollen noch mehr Zeitzeugnisse erstellen und denken dafür an weitere Ereignisse und soziale Gruppen: So könnte DDR-Geschichte virtualisiert werden, aber auch die Erlebnisse von Roma und Sinti während der NS-Zeit. Dank digitaler Technik muss keiner mehr sein Wissen mit ins Grab mitnehmen – eine faszinierende Vorstellung.

Zurzeit läuft der Feldversuch zur Erforschung der digitalen Unterrichtsmaterialien: Zunächst besucht Abba Naor mit den Didakter*Innen Schulklassen und Seminare, danach werden die virtuellen Interviews im Unterricht eingesetzt, um die Wirkung von Mensch und seinem virtuellem Alter Ego zu vergleichen.

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Abba Naor vor seinem digitalen Zeugnis