Der Tag im Inneren der Erde beginnt mit einem Flug durchs All über der Westküste Afrikas. Nördlich von Marokko und westlich von Gibraltar taucht der Blick durch die Atmosphäre und Wolken in den Atlantik und weiter ins Innere der Erdkugel: Darin steigen zähflüssige Massen vom heißen Kern auf, kühlen sich ab, werden mit hohem Druck an die Unterseite des Erdmantels gedrückt. Auf diese Art wurden vor Milliarden Jahren erste Landmassen an die Oberfläche des Ur-Ozeans gehoben, die Platten bildeten, sich über- oder unter einander schoben und von denen Kontinente und Inseln abbrachen. „Das Video ,Within the Marble‘ visualisiert Daten aus der Geophysik“, erklärt Elisabeth Mayer, die im Zentrum für Virtuelle Realität und Visualisierung (V2C) am Leibniz-Rechenzenrum (LRZ) Simulationsdaten zu VR-Anwendungen oder Kurzvideos verarbeitet. „Ein bestehendes Modell über die Mantelkonvektion wurde neu und in höherer Auflösung berechnet, es zeigt nun noch mehr Details von den Vorgängen im Inneren der Erde und aus der Erdgeschichte.“
Die vorherige Version konzentriert sich auf die Entstehung der Kontinente und wird im American Museum of National History in New York gezeigt. Die aktuelle geophysikalische Simulation, die eine Forschungsgruppe der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU), der Technischen Universität München (TUM) und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) im Rahmen des CoMPS-Projektes berechnete, spürt noch genauer den gewaltigen Prozessen im Erdinneren nach: Beschreibt etwa die Bewegungen glühender Massen in Orange, ihre Abkühlung in Lila sowie in Linien, wie sich im Inneren der Erdkugel Druck, Kraft- und Bewegungsfelder sowie Geschwindigkeiten aufbauen und wie dies wiederum die Topografie der Erdoberfläche oder seismische Aktivitäten beeinflusst. Mit Hilfe von grafischen Programmen sowie Game Engines, eigentlich gemacht zum Aufbau von Computerspielen, haben ein Team um den Forscher Emilio D‘Ascoli sowie Mayer und ihre Kollegen aus den Simulationsdaten ein VR-Programm produziert, durch das Betrachterinnen in die Simulation eintauchen und durch Zoomen auf Details oder auf Erdregionen nachvollziehen können, wie sich zum Beispiel Masseteilchen im Erdinneren bewegen oder wie Berge und Vulkane entstehen und wo sich Gefahren für Erdbeben ballen. Außerdem wurde davon noch das Video “Within the Marble” abgeleitet: „Die Herausforderung ist, Inhalte fürs Visualisieren so zu reduzieren, dass nichts verfälscht wird und wir sie uns in Virtual Reality oder im Video nahtlos ansehen können, ohne dass im Hintergrund gerechnet werden muss.“ Jedes Rechnen führt zu kurzen Unterbrechungen, die Darstellung würde ruckeln und den optischen Eindruck stören.
Die eigentliche Simulation zur Mantelkonvektion umfasst insgesamt rund 6,5 Terabytes Informationen. Davon werden für die Visualisierungen nur ein Bruchteil verwendet: So basiert die VR-Anwendung auf rund 575 Gigabytes, das Video wiederum auf 21 Gigabytes Daten, die mit den Programmen ParaView sowie Unreal Engine bearbeitet wurden. „Die Simulation zeigt jede Entwicklung in 61 Zeitschritten und damit in eher abrupten, eckigen Bewegungen“, sagt Mayer. Mit ihrem Kollegen Thomas Odaker interpolierte sie diese Bilddaten mit ParaView auf 1000 Zeitschritte: „So sehen die Bewegungen natürlicher, fließender aus.“
Während die VR-Anwendung sich auf die Darstellung der Simulationsdaten beschränkt und das Zoomen auf die detaillierten Bewegungen oder Prozesse im Erdinneren erlaubt, verarbeitet das Video für die rasante Kamerafahrt zum Erdinneren und wieder hinaus ins dunkle All hochaufgelöste Bilder von der NASA. So wird eine Geschichte vom Tag im Inneren der Erde oder der Murmel erzählt. „Im Vergleich zum Modell ist die Visualisierung winzig“, beschreibt Mayer eine Herausforderung. „Ich musste also dafür sorgen, dass Kurven nicht zu stark abknicken oder die Kamera gerade auf einer gedachten Linie fährt. Zuckungen würden optisch zu großen Verschiebungen führen.“ Das zu schaffen, braucht Geduld und Hartnäckigkeit, vor allem aber eine ruhige Hand im Umgang mit der Maus. Die Simulation beschreibt die Erde in einer Auflösung von gut 10 Kilometern, die entsprechen im Video Milli- oder gar Mikrometern.
Das Video enthält außerdem keine Schnitte, die Fahrt in die Erdkugel hinein, durch die Massen hindurch und wieder hinaus wird durchgängig als Tagesreise inszeniert. „Durch den Wechsel von Ansichten kannst du geschickt verschiedene Perspektiven verbinden und im Hin- und Herschalten auch mal kleinere Fehler verstecken“, sagt Mayer. „Das ist bei einem One-Take nicht möglich.“ Stimmen müssen dabei auch der Einfallwinkel des Sonnenlichts oder die abstrakten Darstellungen von Druck und Geschwindigkeit – im Video durch unterschiedlich dicke und farbige Linien gezeigt. Vorteil dieser Aufnahme- oder Darstellungstechnik: Bei Bedarf kann das Video im endlosen Loop abgespielt werden.
Der VR-Blick ins Innere der Erde wurde bereits im Mai in Hamburg bei der Supercomputing-Konferenz ISC-HPC25 präsentiert, das Kurzvideo indes vor Kurzem bei der Ausstellung „Art of HPC“ während der SC25 in St. Louis. „Dazu wurde in diesem Jahr eine durchgängige Ausstellung prominent im Eingangsbereich aufgebaut und mehrere Monitore machten auf die Präsentationen aufmerksam“, berichtet Mayer. „Die Resonanz auf das Video war gut, viele haben mich nach der Entstehung und nach eingesetzten Techniken gefragt.“ Das Video zeigt Grundlagen der Geophysik und macht Lust, sich näher mit der Erdgeschichte zu beschäftigen. Das CoMPS Forschungsteam will das Video bei Präsentationen rund um die Simulation einsetzen, am LRZ wird es im Zentrum für Virtuelle Realität und Visualisierung zu sehen sein. Elisabeth Mayer überlegt derweil schon, was sie nächstes Jahr veranschaulichen kann. „Ich hätte Lust auf ein Thema aus der Medizin.“ (vs | LRZ)
CoMPS steht für Multi-Physikalische Simulationen für Geodynamik auf heterogenen Exascale-Systemen: In diesem Projekt werden bestehende Wissenschaftscodes wie Terra oder Hybrid Tetrahedral Grids (HyTeG), mit denen die Mantelkonvektion im Erdinneren beschrieben werden kann, um Parameter wie Kraft- und Bewegungsfelder erweitert und auf eine deutlich höhere Auflösung gebracht. Neben dem LRZ, das die technische Infrastruktur bereitstellt, waren daran der Lehrstuhl Systemsimulation der FAU sowie der Lehrstuhl Numerische Mathematik der TUM beteiligt. In diesem Rahmen und quasi als Use Case wurden die Prozesse im Erdinneren simuliert, die am LRZ visualisiert wurden. Ein Ergebnis von CoMPS ist unter anderem der Code TerraNEO, der inzwischen auf den Höchstleistungssystemen des Gauss Centre for Supercomputing (GCS) ausgeführt und weiter optimiert wird.